Einführung

 

Die Spur führt nach Tirol

 

Charlotte Auer

9. Januar 2017

 

Wenn man bemerkt, dass man sich in einer Sache auf dem sprichwörtlichen Holzweg befindet, dann bleibt einem nichts anderes übrig, als zurück zu gehen und die Stelle zu finden, an der man falsch abgebogen ist. So erging es mir mit meinen ersten Überlegungen zum Voynich Manuskript, die mich auf Umwege führten, deren Schilderung ich mir hier aber lieber ersparen will.

 

Wie viele andere auch, die der Faszination dieser Handschrift erlegen sind, verfolgte ich lieber Ideen zu einem möglichen Autor, statt mit einer nüchternen kodikologischen und paläografischen Betrachtung zu beginnen. Erst an diesem Punkt, an dem mir klar wurde, was das Manuskript nicht ist oder keinesfalls sein kann, begann sich eine für mich klare und überzeugende Spur abzuzeichnen, die geradewegs nach Tirol zu den Vintler führt.

 

Es ist nicht nur eine Stelle, an der – bildlich gesprochen – der Weg nach Tirol abbiegt, sondern ist sind gleich mehrere, aber all diese Pfade laufen an einem Punkt zusammen: der Burg Runkelstein bei Bozen, auf der alle Voraussetzungen für die Entstehung der Handschrift gegeben waren.

 

Ein erster wirklicher Durchbruch gelang mir, als ich die Marginalien und insbesondere die letzte Seite, das Kolophon, transkribierte. Nun wusste ich, wohin die Reise geht und mit welcher Sprache ich es zu tun hatte, nämlich mit einem – wenn auch etwas unbeholfenen – baierisch-östereichischen Dialekt, so wie er im frühen 15. Jhd. in der Region des heutigen Südtirols gesprochen und geschrieben wurde.

 

Was die rätselhafte Schrift im Voynich Manuskript - eine stark personalisierte Mischform gotischer Kursiven und älterer Vorbilder – selbst betrifft, so werde ich diese in einem eigenen Kapitel analysieren. An dieser Stelle geht es zunächst einmal darum, möglichst die erste Schreibhand (es gab mindestens zwei Hände) zu identifizieren und die Rahmenbedingungen zu beleuchten, unter den das Manuskript entstanden ist.

 

Diese erste Schreibhand muss sehr erfahren und vor allem auch mit verschiedenen Urkunden-Schriften vertraut gewesen sein. Ich gehe davon aus, dass dieser erste Schreiber das „Voynich-Alphabet“ aus seinem großen Wissensfundus heraus entwickelt und seinen Auftraggeber damit überzeugt hat. Der zweite Schreiber, den man ihm aus Zeitgründen zur Seite stellte, war deutlich weniger geübt und hat die „Verschlüsselung“ gelentlich auch mal vergessen.

 

Für eine derartig anspruchsvolle Aufgabe, zumal unter großem Zeitdruck, wie nachfolgend noch erläutert wird, standen in jener unruhigen Zeit in Südtirol nicht eben viele Schreiber zur Verfügung, die dies hätten bewältigen können. Nimmt man noch hinzu, dass es im Voynich Manuskript nur sehr wenige Korrekturen gibt, dann kann es sich eigentlich nur um den aus München stammenden Heinz Sentlinger handeln, der dieses Meisterwerk zustande brachte.

 

Er muss es nicht gewesen sein, das sollte ich einräumen, denn bisher habe ich nur Indizien dafür und noch keine handfesten Beweise. Dennoch dürfte es ausgesprochen schwer werden, einen anderen Schreiber zu benennen, der in der Lage war, ein privates Alphabet zu erfinden, es bis zur Unlesbarkeit zu individualisieren und das Ganze auf einem so winzigen Format unterzubringen, auf dem schon eine normale Schrift kaum lesbar wäre.

 

Über den offenbar hoch gebildeten, wohl einer Münchner Patrizierfamilie entstammenden, Sentlinger ist kaum mehr bekannt als das, was er recht selbstbewußt in Kolophonen einiger Codices über sich selber schreibt. Keinen Zweifel gibt es allerdings daran, dass er im Auftrag des Hans II. Vintler dessen pluemen der tugent 1)auf der Burg Runkelstein bei Bozen nieder schrieb, eigenständig redigierte und im Jahr 1411 vollendete. Auf dieses Werk und die Rolle Sentlingers wird im Kapitel über die Vintler noch näher eingegangen, da seine Entstehungsgeschichte für das Verständnis der Vintlerschen Lebenswelt nicht ganz unwichtig ist.

 

Auch wenn es nicht eindeutig belegt ist, geht die Vintler-Forschung davon aus, dass die Herren der Burg Runkelstein dort sowohl ein eigenes Skriptorium unterhielten als auch eine umfangreiche Büchersammlung besaßen. Da in einer Urkunde aus dem Jahr 1404 ein eigener Schreiber erwähnt wird, gehen einige Autoren auch davon aus, dass damit bereits jener Sentlinger gemeint ist. Das ist nicht unwahrscheinlich , da sowohl Niklaus als auch Hans II. Vintler hohe Ämter bekleideten und zahlreiche Schriftstücke ausfertigen ließen. Auch würde es einige Eigenheiten der Schrift im Voynich Manuskript erklären, falls Sentlinger wirklich die erste Schreibhand war.

 

Meine Vermutungen über Sentlinger als Schreiber genügen alleine natürlich nicht, um die Theorie zu begründen, dass das Voynich Manuskript auf Runkelstein entstand und das Hausbuch der Vintler ist. Tatsächlich gibt es zahlreiche anderer Indizien, die diese Theorie untermauern und die, von der paläogrfischen Analyse abgesehen, sowohl in der Kodikologie als auch in der Ikonografie zu finden sind.

 

 

Aufstieg einer Dynastie - die Vintler auf Runkelstein

 

Die Geschichte der Vintler ist viel zu komplex, um sie hier in der gebotenen Kürze darzustellen, auch ist dies nicht Sinn und Zweck dieser Seite. Trotzdem ist es unerläßlich, einige Aspekte dieser Familiengeschichte besonders heraus zu arbeiten, um den von mir vermuteten Zusammenhang mit der Entstehung des Voynich Manuskripts als Hausbuch der Vintler verständlich zu machen. Denn in genau diesem Vintlerschen Streben nach weltlicher Macht und aristokratischer Lebensweise scheint mir das eigentliche Geheimnis des Voynich Manuskripts verborgen zu sein.

 

Irgendwann zu Beginn des 13. Jhd. taucht der Clan der Vintler zum ersten Mal urkundlich belegt aus dem Dunkel der Geschichte auf, um sich dann von Generation zu Generation in den Glanz des Adels und der Mächtigen hinauf zu arbeiten. Sie waren das, was man heute Emporkömmlinge nennt, eine Aufsteigerfamilie, der jedes Mittel recht war um das ersehnte Ziel des Adelsstandes zu erreichen. Nicht umsonst lautete der Titel der Ausstellung und des gleichnamigen Buches zum 600. Geburtstag der pluemen der tugent im Jahr 2011 auf Runkelstein „Krieg, Wucher, Aberglaube“ 2), denn das waren die Bedingungen, die den Vintler ihren Aufstieg bereiteten.

 

Offenbar schon gegen Ende des 14. Jhd. durch Weinhandel und Immobiliengeschäfte überaus reich geworden, kauften die beiden Brüder Niklaus und Franz Vintler im Jahre 1385 die an der Talfer bei Bozen gelegene Burg Runkelstein und bauten sie in wenigen Jahren zu einem einzigartigen Prestigeobjekt aus. Die „Bilderburg“ - wie Runkelstein auch genannt wird – beherbergt den größten profanen mittelalterlichen Freskenzyklus in Europa und ist ein beredtes Zeugnis für den ambitionierten höfischen Lebensstil einer Familie, die unbedingt ganz nach oben wollte.

 

Der umtriebige Niklaus Vintler (ca. 1345 - 1413), unter den Herzögen Leopold III und später Albrecht III auch oberster Amtmann und Richter in Tirol, legte offenkundig größten Wert darauf, die untadelige literarische Bildung und den Kunstverstand seiner Familie derart überdimensioniert darzustellen, dass niemand unter den weltlichen und geistlichen Herrschern Tirols daran zweifeln konnte. Was man heute schlicht als Protz und Angeberei bezeichnen würde, war für Vintler wohl der Wunsch, eine adlige Existenz zu leben oder sich auf seine Art selbst zu adeln.

 

Nicht nur der gewaltige Bilderzyklus, sondern auch die luftige Architektur des Sommerhauses mit seinen Arkaden nach italienischem Vorbild, ist ein Ausdruck für den ganz besonderen Lebensstil der Vintler. Sie waren reich, mächtig und sie hatten einen Glamour, der auch in den höchsten Kreisen einfach nicht zu übersehen war und nicht zu übersehen sein sollte. Ganz erstaunlich ist die Tatsache, dass sich außerhalb der Burgkapelle im gesamten Freskenzyklus keinerlei religiöse Darstellungen oder Symbole finden. Das gleiche gilt übrigens für das Voynich Manuskript, wo es bis auf ein winziges Kreuz nichts dergleichen zu sehen gibt.

 

Die Zeit der Vintler auf Runkelstein war keineswegs von Muße, Ritterspielen und Festlichkeiten geprägt, sondern eher von Kriegen, Belagerungen, Raub und Mord. Als sich Niklaus Vintler im Jahre ….

den alteingesessenen Tiroler Adligen im Falkenbund gegen den Landesfürsten Friedrich IV. (mit der leere Tasche) anschloss und er in diverse Händel auch gegen den Bischof von Trient verwickelt wurde, begann sein Stern rasch zu sinken. Einigermaßen übereinstimmend berichten die Quellen davon, dass er 1407 von der Burg Runkelstein fliehen musste und den größten Teil seiner Güter und seines Vermögens verlor, die ihm allerdings im Jahre … durch …. wieder rück übereignet wurden.

 

Im Gegensatz zu Niklaus schien sein Neffe Hans II. Vintler keinerlei Probleme mit Friedrich IV gehabt, sondern, in dessen Dienste eingetreten, sogar die ehemaligen Ämter seines Onkels übernommen zu haben und u.a. als Amtmann und Richter auf Stein am Ritten zu fungieren. Verblüffend dabei ist, dass es – wenigstens nach meiner Kenntnis – keinerlei historische Hinweise auf einen familiären Zwist zwischen Onkel und Neffen gibt, die sich über Jahre in verfeindeten Lagern gegenüber gestanden haben mussten. Sei dies einer gezielten Strategie des Vintler Clans geschuldet oder schlicht und einfach ein Mangel an Dokumentation, auf jeden Fall muss sich Hans II. Vintler lange genug auf Runkelstein aufgehalten haben um dort mit Hilfe seines Schreibers Sentlinger die pluemen der tugent im Jahre 1411 zu vollenden.

 

Angsichts der Rückgabe der Burg schon im Jahre … an die Vintler ist anzunehmen, dass das Leben und die Arbeit auf der Burg trotz und nach der zeitweisen Belagerung einfach ziemlich normal weiter ging, obwohl die Konflikte nicht endgültig beiglegt waren und jederzeit wieder aufflammen konnten. Die Vintler müssen vom Zeitpunkt des Erwerbs der Burg Runkelstein 1385 bis mindestens zum Tode Hans II. Vintler 1419 unter einem enormen Druck gestanden sein und waren nachweisbar in ständige Händel und wechselnde Allianzen verstrickt. Stets mit der Bedrohung, alles zu verlieren, was sie über weit mehr als hundert Jahre zusammen gerafft hatten. Man darf sicher davon ausgehen, dass ihr Reichtum nicht nur aus dem Weinhandel und den Geschäften mit Immobilien und Landgütern bestand, sondern auch mit allem anderen, was profitabel war, wie z.B. Seidenhandel, Weberei und der Produktion von pharmazeutischen Produkten. Es ist schwer vorstellbar, dass sich diese Bozener Patrizierfamilie mit ihrem aristokratischen Gehabe und Anspruchsdenken auch nur das kleinste Geschäft hätte entgehen lassen. Womit wir wieder den Bogen zum Voynich Manuskript schlagen können, das so perfekt in die Welt der Vintler paßt.