f116v

 

Zaubersprüche - oder am Ende findet sich ein Anfang

 

Charlotte Auer

9. Januar 2017

 

Auf dem letzten, Kolophon genannten, Blatt einer mittelalterlichen Handschrift finden sich häufig wichtige Informationen wie Datierung, Nennung des Schreibers oder Auftraggebers oder auch einfach nur Federproben wie z.B. Profilfratzen. In dieser Hinsicht ist f116v des Voynich Manuskripts sehr enttäuschend, denn nichts davon ist hier der Nachwelt hinterlassen bis auf die kleinen Zeichnungen am linken Rand.

 

Über die Bedeutung des Textes und der Zeichnungen ist schon viel gerätselt und noch mehr Unsinn verbreitet worden. Das muss nicht so bleiben, denn der größte Teil des Textes ist für mich gut lesbar und die Zeichnungen sind eindeutig zu interpretieren.

 

Hier die Transkription der ersten und letzten Zeile:

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Der erste Satz „vor Leber ainen gut zifer“ heißt in modernes Deutsch übertragen „für (die) Leber einen guten Zauberspruch“ und dieser folgt dann auch prompt in Form von latinisiertem Nonsense, so wie er damals üblich war. (Auf diese Beschwörungsformel werde ich später noch gesondert eingehen, denn für die Entschlüsselung des Manuskripts hat sie praktisch keine Bedeutung.)

 

Der letzten Satz beginnt mit 2 (?) Wörtern in „Voynichese“ und fährt dann in Deutsch fort mit „valsen arzney so nim got(s) mich o“. Dies heißt in modernem Deutsch so viel wie „.... ….. falsche Arznei, so sei Gott mir gnädig“. Die Pünktchen über dem o sind diakritische Zeichen und stellen eine Betonung dar, wobei das o lang wie z.B. in roh oder so ausgesprochen wird, so wie es auch heute noch im Bayrischen der Fall ist. Diese Betonung durch Punkte findet man sehr häufig in mittelalterlichen Codices, besonders über dem Buchstaben o, wenn auch selten so viele übereinander. Ungewöhnlich ist es auf jeden Fall nicht.

Die Schrift des gesamten Textes der Seite f116v ist eine Mischung aus einer teilweise sehr flüchtigen Notula und einer Schleifenbastarda, die als Kombination durchaus eigenwillig wirkt und einige interessante Schlüsse zulässt, die im Kapitel Paläografie näher erläutert werden. Eine dieser Schlußfolgerungen, ist die, dass nach meiner Meinung sowohl das Kolophon als auch die Marginalien von der zweiten Hand geschrieben wurden, die in einer gleichmäßigen Bastarda nicht geübt war. Im übrigen ist diese Art von Hybridschrift ein Hinweis auf eine sehr frühe Entstehung des Manuskripts im 15. Jhd.

 

Was die beiden Wörter in Voynichese angeht, so bin ich mir ziemlich sicher, sie richtig entschlüsselt zu haben, möchte dies im Moment jeoch noch nicht publizieren, um keine Verwirrung zu stiften. Hier sei nochmals darauf verwiesen, dass die Auflösung der Schrift extrem kontextabhängig ist, was bei einer aus dem Zusammenhang gerissenen Transkription zu Fehlinterpretationen führen würde.

 

Nimmt man die in deutsch transkribierten Textstücke zusammen, dann sieht man , dass es hier um Medizin und in einem nicht geringen Maße um Zauberei geht – zwei Dinge, die im Mittelalter kaum voneinander zu trennen waren. Wer hier also für die Behandlung eines Leberleidens einen Zauberspruch empfiehlt, bittet schon mal vorsorglich um Gottes Gnade für den Fall, dass es die falsche Medizin ist.

 

Die Sprache dieser Textstellen ist Bayrisch-Östereichisch, wie es damals in Südtirol gesprochen und geschrieben wurde. Das Wort „zifer“ (von chiffre ) gehört nach meinem Wissen nicht zu diesem Dialekt, sondern könnte, ganz regional, aus dem Ladinischen kommen, wo zifra heute noch für Zauberspruch oder z.B. Geheimschrift gebraucht wird. Hier ist noch einiges an Recherche nötig.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Was die Zeichnungen angeht, so sind diese bei Weitem nicht so geheimnisvoll, wie oft vermutet wird. Die obere Zeichnung bedeutet keineswegs ein seltsames Gefäß oder Gerät, sondern ist einfach eine grob schematische Darstellung einer menschlichen Figur und darin die Leber mit zwei Leberlappen und ihrem anatomisch korrekten Sitz unterhalb des Herzens. Die drei lesbaren Buchstaben „leb“ am äußersten linken Rand sollten wohl das Wort Leber bilden, wofür dann aber der Platz nicht ausgereicht hat. Es ist aber auch möglich, dass die restlichen beiden Buchstaben „er“ einfach verblaßt oder in einer Pergamentfalte verschwunden sind. Genau wird man das vielleicht nicht mehr herausfinden können.

 

Die Darstellung eines Lamms und einer Jungfrau gehören zum gewöhnlichen Repertoire der mittelalterlichen Ikonografie, allerdings ist mir keine bekannt, in der die Jungfrau völlig nackt ist. Das agnus dei zusammen mit der Jungfrau Maria ist ein so gewohntes Bild, dass ich mir bei diesem Anblick nicht schlüssig bin, ob die Jungfrau noch mit einem blauen Mantel malerisch bekleidet werden sollte oder ob sie gar nicht gemeint ist. Auch das wird wohl eine der offenen Fragen bleiben.

 

Insgesamt ist dieses Ende des Voynich Manuskripts für meine Arbeit ein sehr guter Anfang für die überaus zeitraubende und mühsame Entzifferung der Schrift. Die wichtigste Basis dabei ist die Annahme, dass der gesamte Text der Handschrift überwiegend in der o.g. Sprache verfaßt ist. Eine unerläßliche Prämisse, ohne die sich eine derart individualisierte Schrift überhaupt nicht entziffern läst, wenn man schon keinen direkten Schriftvergleich machen kann.