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Kodikologische Betrachtungen
Charlotte Auer
12. Januar 2017
Unter den schier zahllosen erhaltenen mittelalterlichen Handschriften nimmt das Voynich Manuskript aufgrund seiner bisher unlesbaren Schrift und seiner eigentümlichen Zeichnungen eine Sonderstellung ein. Da man wegen jener Unlesbarkeit nicht einmal die zugrunde liegende Sprache identifizieren kann und damit keinerlei Hinweise auf den Ort seiner Entstehung zu finden sind, steht vorläufig nur die allgemeine kodikologische Analyse der Beinecke Library zur Verfügung.
Die Insider der Voynich Community, die sich teilweise schon seit Jahren und Jahrzehnten mit dem Codex beschäftigen, kennen die Ergebnisse dieser Analyse natürlich sehr genau. Für Leser, die damit nicht vertraut sind, fasse ich die wichtigsten Merkmale der Handschrift hier noch einmal kurz zusammen.
Das bedeutendste Ergebnis der durch die Beinecke Library durchgeführten Untersuchungen ist die Datierung, die mittels einer Radiokarbon-Analyse des Pergaments eine Entstehungszeit von 1404-1438 als sicher gelten läßt. Damit ist ausgeschlossen, dass es sich bei der Handschrift um eine spätere, mit viel Aufwand hergestellte Fälschung handelt.
Der Beschreibstoff selbst und der Einband sind aus Pergament vom Kalb, wie er zu Beginn des 15. Jhd. in Mitteleuropa üblich war. Ebenso bestehen Tinte und Farbe aus Materialien, die zu jener Zeit gebräulich waren und weisen keine Auffälligkeiten auf, die auf einen bestimmten Ort oder eine Region schliessen lassen würden.
Dennoch gibt es einige Aspekte, die sehr ungewöhnlich sind. Da ist als erstes das für eine illuminierte Handschrift wirklich sehr kleine Format von nur 23 x 16 cm, für das es kaum vergleichbare Beispiele gibt. Des weiteren sind die Fäden der Bindung nicht wie üblich aus Leder sondern aus Flachs, der, obwohl fast überall verfügbar, nur selten für die Fadenheftung eingesetzt wurde. Und schließlich die Frage, warum das Buch auf teurem Pergament und nicht auf viel preiswerterem Papier geschrieben ist. Eine besondere Bedeutung aber kommt den gefalteten Bögen zu, die dem Manuskript beigebunden wurden und auf die ich weiter unten näher eingehen werde.
Ich habe mich mit den rein technischen kodikologischen Ergebnissen nicht sehr eingehend beschäftigt, da sich meine Arbeit auf die Schrift konzentriert, trotzdem bieten mir die vorliegenden Fakten genügend Anhaltspunkte für meine eigene kodikologische Interpretation im Rahmen meiner Theorie.
Zunächst einmal ist es wichtig, festzuhalten, was das Voynich Manuskript auf keinen Fall ist. Es handelt sich nicht um eine prächtig illuminierte, von einem reichen Herrscher in Auftrag gegebene Handschrift zum Zwecke der Repräsentation, so wie wir sie zum Beispiel als Stundenbücher kennen. Es ist auch kein vom Klerus berauftragtes religiöses oder liturgisches Werk, da es jegliche religiöse Symbolik vermissen läßt. Was aber ist es dann? Nach meiner Ansicht ist es eine – wenn auch auf den ersten Blick widersprüchlich wirkende – Gebrauchsschrift, die nur für einen einzigen Anlaß und nur für einen sehr kleinen Kreis von Eingeweihten angefertigt wurde.
Wenn man mit mittelalterlichen Handschriften einigermaßen vertraut ist, fällt eines sofort auf: der flüchtige, notizenhafte Charakter des Manuskripts, der durch den Widerspruch zwischen den teilweise sehr delikaten Federzeichnungen und der gelegentlich recht groben Kolorierung noch verstärkt wird. Nimmt man das kleine Format noch dazu, dann gewinnt man den Eindruck, ein Notizbuch vor sich zu haben, bei dem es auf Schönheit und Akkuratesse nicht ankommt. Außerdem scheint das Buch in großer Eile gefertigt worden zu sein, wofür einige Umstände sprechen, und ist unvollendet geblieben.
Es gibt keinen festgelegten Schriftraum und keine Linierung, die den Schreibern die Arbeit erleichtert hätten und das Buch „ordentlich“ hätten aussehen lassen. Allerdings kann man deutlich sehen, dass die Schreiber selbst darum bemüht waren, einen Schriftraum und gleichmäßige Zeilen möglichst einzuhalten. Auch fehlen die in den Manuskripten des Mittelalters beliebten und üblichen Verzierungen wie z.B. Initialen und Lombarden (von denen es nur drei auf der ersten Seite f1r gibt). Offensichtlich war dafür einfach keine Zeit und nur hier und da hat sich die Erste Schreibhand ein paar Schnörkel erlaubt, vielleicht zur Entspannung oder auch aus Berufsehre. Man darf hier nicht vergessen, dass das Schreiben in „Geheimschrift“ und winzigen Buchstaben eine ungeheure Anstrengung war – vor allem unter Zeitdruck in kalten, zugigen Räumen mit klammen Fingern bei Kerzenlicht. Es ist also nicht verwunderlich, dass sich die Schreiber abwechselten, zumal nach meiner Theorie die Erste Schreibhand auch noch für andere Aufgaben zuständig war.
Nach dieser Theorie ist das Voynich Manuskript auf der Burg Runkelstein im Auftrag der Vintler entstanden und dafür waren alle Bedingungen gegeben. Dort schrieb Heinz Sentlinger in den Jahren vor 1411 die pluemen der tugent für Hans Vintler II nieder, der neben der Dichtkunst auch noch eine Reihe von Amtsgeschäften zu tätigen hatte. Der Reichtum der Vintler erlaubte es ihnen, ein eigenes Skriptorium zu unterhalten und eine gut bestückte Bibliothek mit allen wichtigen Werken der Zeit stand höchstwahrscheinlich auch zur Verfügung. Pergament gab es sicher ebenfalls reichlich oder konnte bei Bedarf beschafft werden, da die Vintler dies für ihre zahlreichen Urkunden stets benötigten. Hierbei ist noch anzumerken, dass das Pergament des Voynich Manuskripts zwar von guter, aber nicht von allerbester Qualität ist, denn man kann deutlich genähte Risse sehen, die bei der Herstellung entstanden sind. Für wichtige Urkunden oder Prachthandschriften hätte man dieses nicht benutzt. Es ist also gut möglich, dass man für das private Buch der Vintler die weniger hohe Qualität, also quasi den Ausschuß, wählte, für die Bindung auf feine Lederstreifen verzichtete und statt dessen den billigeren und stabileren Flachs nahm. Etwas, das ebenfalls für die Benutzung von eigentlich für Urkunden vorgesehenem Pergament spricht, sind die ausfaltbaren „Streifen“, die stark an das Format langer, schmaler oder auch kurzer und breiter Urkunden erinnern. Die Frage, warum überhaupt Pergament als Beschreibstoff gewählt wurde, läßt sich auch dadurch erklären, dass dieser Codex zum ständigen Gebrauch vorgesehen und Papier dafür zu fragil war. So gesehen ist das Voynich Manuskript ein robustes Handbuch für einen bestimmten Zweck, dessen Langlebigkeit ja nun hinreichend bewiesen ist.
Was die Farben und die Kolorierung der Zeichnungen betrifft, so ergibt sich auch hier ein schlüssiger Bezug zu den Vintler auf der Burg Runkelstein, die nicht umsonst „Bilderburg“ genannt wird. Der gewaltige Freskenzyklus war zur Zeit der pluemen der tugent weitgehend fertig gestellt, aber gewiß noch nicht vollständig abgeschlossen, das heißt, dass Farbpigmente in jeder Farbe und reichlicher Menge vorhanden waren. Betrachtet man die wenig künstlerische, geradezu grobe Über-Malung der Zeichnungen mit dickem Farbauftrag, so liegt der Gedanke nahe, dass es sich bei dem Koloristen nicht um einen professionellen Buch-Miniator gehandelt haben kann. Es wäre also nicht unlogisch, wenn man aus Zeit- und Kostengründen einen der Freskenmaler zu dieser Arbeit herangezogen hätte, der sich zwar redlich Mühe gab, mit dem winzig kleinen Format aber sichtlich überfordert war. Ich wäre übrigens nicht im Geringsten erstaunt, wenn die in der roten Farbe des Manuskripts gefundenen Quarzpartikel mit Quarz von der Runkelstein übereinstimmen würden.
Eine, nach meinem Wissen, schon oft diskutierte Frage ist die nach der Reihenfolge von Text und Zeichnung oder was von beiden zuerst gefertigt wurde. Eigentlich kann man diese Frage nur dann überzeugend beantworten, wenn man genau weiss, ob Schreiber und Zeichner die gleiche Person waren oder nicht, was natürlich nicht möglich ist. Wäre dies der Fall gewesen, dann könnte man davon ausgehen, dass der Schreiber/Zeichner selbst eine beliebige, abwechselnde Reihenfolge gewählt hat. Dass ein Schreiber auch zugleich die Illustrationen einer Handschrift anfertigte, dürfte allerdings höchst selten vorgekommen sein. Beispiele hierfür gibt es, wie etwa die Skizzenbücher Leonardo da Vincis, aber im Normalfall war dies die Aufgabe des Miniators.
Ich gehe davon aus, dass zunächst die Federzeichnungen aufgebracht wurden, dann der Text und schließlich die Farbe. Zuerst den Text zu schreiben und den entsprechenden Raum für die geplanten Zeichnungen so exakt frei zu lassen, wäre nicht nur ungemein schwierig, sondern praktisch unmöglich gewesen. Ein weiteres Indiz dafür ist die fehlende Linierung, denn die hätte vorgegebene Rahmen für die Zeichnungen ebenfalls frei lassen müssen.
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Für ein Notizbuch, was das Voynich Manuskript in meinen Augen ist, hat man auf diesen Aufwand verzichtet, da es ganz gewiss nicht für fremde Augen bestimmt war. Warum hätte man sonst auch extra eine Geheimschrift erfinden müssen?
Die obigen Ausschnitte aus verschiedenen Blättern zeigen deutlich, dass die Schreiber trotz aller Flüchtigkeit sehr sorgfältig um die Zeichnungen herum oder in Zwischenräume geschrieben haben. Auf Blatt f75v sieht man auch genau, dass der Schreiber versucht hat, die erste Zeile unter der etwas schräg geratenen Zeichnung auf einer gedachten Linie so waagerecht zu halten, dass er die Zeichnung an ihrem unteren Rand sogar stellenweise überschrieb. Im unteren Teil dieses Blattes ist besonders gut zu sehen, wie der Text den Umrissen der Zeichnung folgt. Eine umgekehrte Vorgehensweise halte ich für ausgeschlossen.
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